Sonntag, 25. Oktober 2015

Matthias. 2011.

Matthias und ich kennen uns nicht. Ich weiß, dass er Kommunikationsdesign studiert hat, 31 Jahre alt ist und in Potsdam wohnt. Ich stelle mir einen wahnsinnig kreativen wie attraktiven Brillenträger vor, der morgens bis 10 Uhr schläft, dann drei Tassen Kaffee schlürft, ein wenig auf einem weißen Zettel herumkritzelt, um anschließend durch Potsdam zu schlendern – immer auf der Suche nach einem guten Motiv.

Ich habe mich den ganzen Tag hübsch gemacht, wie Frauen dazu sagen.

„Das wird mein erster Sex nach Johannes“, bin ich mir sicher und werde damit auch recht behalten. Ich fahre mit der S7 raus nach Babelsberg. Auf dem Bahnsteig ist es windig, eisig, leer.


Ich warte. Er kommt nicht. Ich warte zehn Minuten, zwanzig. Ich laufe im Kreis auf dem ganzen Bahnsteig herum, die Treppen hoch, wieder hinunter, überlege, ob ich in eine Kneipe gehen soll. Meine Finger werden blau. Ich fühle mich verlassen, von einem Menschen, den ich nicht mal kenne.

Als mein Handy schließlich klingelt, wird mir mit einem Schlag wärmer. Er sagt Dinge wie „Spatzl“ und „es tut mir leid“ und „ich renne sofort los“. Das lässt mich immerhin weitere sieben Minuten ausharren.

Ich stehe unten an der Treppe zum Gleis. Die Säulen, die Wände, die Decke: Alles wirkt wie die trostlose Kulisse eines schlechten Nazi-Films und langsam werde ich sauer.

Ein kleiner Mann kommt plötzlich um die Ecke geschossen, streckt die Arme aus, drückt mich, wie einen alten Schulfreund, wie eine Puppe.

Er ist so klein wie ich.
„Kleiner Mann, kleiner Schwanz“, entfährt es meinem Gehirn.

Brillenträger ist er tatsächlich. Er hat sie ernsthaft in der Mitte zusammen gelötet, sie hängt schräg auf seiner kleinen Nase.

Er läuft schnell und redet ununterbrochen, starrt mich zwischendurch immer wieder an, bewundernd, erstaunt, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Als wäre er sehr glücklich.

In seiner Wohnung riecht es modrig wie in einem alten Antiquitätenladen. Sein Computerbildschirm ist grau vergilbt.

„Daran hast du all die Abende gesessen?“ frage ich ungläubig. Er nickt und strahlt dabei wie ein kleiner Junge. Wir setzen uns in die Küche. Sie ist dunkel und leicht verdreckt. Er legt eine vertrocknete Scheibe Brot auf den Tisch und isst dazu Spreewälder Peperoni. Es quietscht laut, wenn er kaut.

Ich ärgere mich über mich selbst. Trotz meiner guten Männerkenntnis habe ich mich abermals in die Vision eines Mannes vernarrt, der in der Realität gar nicht existiert. Dieses Internet

Du könntest jetzt einfach gehen, eine schlechte Ausrede fällt dir sicher ein. Irgendwelche Schmerzen oder gar der Ex-Freund, der dir ja noch ach so sehr im Kopf herumspukt. Aber nun bist du schon mal hier, da kannst du auch einfach das Beste aus der Situation machen. Und Sex haben.

Der kleine Freak will gar nicht mehr aufhören, mich anzustarren. Obwohl ich ihm in jeglicher Hinsicht überlegen bin, fühle ich mich unwohl. Ich verhalte mich bockig, wie ein quengelndes kleines Mädchen, er lässt es seufzend über sich ergehen. Ich will nichts essen, nichts trinken, die Heizung bitte wärmer und das Fenster zu. Er schmatzt weiter vor sich hin.

In einem Moment, den ich als einen der unromantischsten meines Lebens bezeichnen würde, küsst er mich. Und zwar genau so, wie man es von kleinen Freaks erwartet: Völlig überraschend schießt mir ein Gesicht entgegen, bohrt sich eine Zunge zwischen meine Lippen, ist plötzlich überall in mir und an mir. Alles schmeckt nach Peperoniwasser. Sein Körpergeruch ist eigen, aber gar nicht mal schlecht.

An der Wand hängt ein Bild, das aus etlichen Medikamentenkapseln gestaltet wurde. Man hat sie behutsam geleert und mit Samen, toten Insekten, Sand, Gras und anderen Dingen gefüllt. Immerhin hat er Talent, denke ich.

„Cooles Bild, oder? Hat meine Ex gemacht.“

Am nächsten Abend stehe ich mit meiner Schwester in einer Toilettenkabine im CineStar am Potsdamer Platz. Sie begutachtet meine blutig schwarze Brustwarze.

„Wie ist das denn passiert?“
„Frag nicht.“
„Hm. Sie wird jedenfalls nicht abfallen.“

Ich bin beruhigt. Meine Brustwarze für einen Mann zu verlieren, der seine Brille zusammen gelötet hat – das hätte ich nicht verkraftet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen