Matthias und ich kennen uns nicht. Ich
weiß, dass er Kommunikationsdesign studiert hat, 31 Jahre alt ist
und in Potsdam wohnt. Ich stelle mir einen wahnsinnig kreativen wie
attraktiven Brillenträger vor, der morgens bis 10 Uhr schläft, dann
drei Tassen Kaffee schlürft, ein wenig auf einem weißen Zettel
herumkritzelt, um anschließend durch Potsdam zu schlendern – immer
auf der Suche nach einem guten Motiv.
Ich habe mich den ganzen Tag hübsch
gemacht, wie Frauen dazu sagen.
„Das wird mein erster Sex nach
Johannes“, bin ich mir sicher und werde damit auch recht behalten.
Ich fahre mit der S7 raus nach Babelsberg. Auf dem Bahnsteig ist es
windig, eisig, leer.
Ich warte. Er kommt nicht. Ich warte
zehn Minuten, zwanzig. Ich laufe im Kreis auf dem ganzen
Bahnsteig herum, die Treppen hoch, wieder hinunter, überlege, ob ich
in eine Kneipe gehen soll. Meine Finger werden blau. Ich fühle mich
verlassen, von einem Menschen, den ich nicht mal kenne.
Als mein Handy schließlich klingelt,
wird mir mit einem Schlag wärmer. Er sagt Dinge wie „Spatzl“ und
„es tut mir leid“ und „ich renne sofort los“. Das lässt mich
immerhin weitere sieben Minuten ausharren.
Ich stehe unten an der Treppe zum
Gleis. Die Säulen, die Wände, die Decke: Alles wirkt wie die
trostlose Kulisse eines schlechten Nazi-Films und langsam werde ich
sauer.
Ein kleiner Mann kommt plötzlich um
die Ecke geschossen, streckt die Arme aus, drückt mich, wie einen
alten Schulfreund, wie eine Puppe.
Er ist so klein wie ich.
„Kleiner Mann, kleiner Schwanz“,
entfährt es meinem Gehirn.
Brillenträger ist er tatsächlich. Er
hat sie ernsthaft in der Mitte zusammen gelötet, sie hängt schräg
auf seiner kleinen Nase.
Er läuft schnell und redet
ununterbrochen, starrt mich zwischendurch immer wieder an,
bewundernd, erstaunt, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Als
wäre er sehr glücklich.
In seiner Wohnung riecht es modrig wie
in einem alten Antiquitätenladen. Sein Computerbildschirm ist grau
vergilbt.
„Daran hast du all die Abende
gesessen?“ frage ich ungläubig. Er nickt und strahlt dabei wie ein
kleiner Junge. Wir setzen uns in die Küche. Sie ist dunkel und
leicht verdreckt. Er legt eine vertrocknete Scheibe Brot auf den
Tisch und isst dazu Spreewälder Peperoni. Es quietscht laut, wenn er
kaut.
Ich ärgere mich über mich selbst.
Trotz meiner guten Männerkenntnis habe ich mich abermals in die
Vision eines Mannes vernarrt, der in der Realität gar nicht
existiert. Dieses Internet
Du könntest jetzt einfach gehen, eine
schlechte Ausrede fällt dir sicher ein. Irgendwelche Schmerzen oder
gar der Ex-Freund, der dir ja noch ach so sehr im Kopf herumspukt.
Aber nun bist du schon mal hier, da kannst du auch einfach das Beste
aus der Situation machen. Und Sex haben.
Der kleine Freak will gar nicht mehr
aufhören, mich anzustarren. Obwohl ich ihm in jeglicher Hinsicht
überlegen bin, fühle ich mich unwohl. Ich verhalte mich bockig, wie
ein quengelndes kleines Mädchen, er lässt es seufzend über sich
ergehen. Ich will nichts essen, nichts trinken, die Heizung bitte
wärmer und das Fenster zu. Er schmatzt weiter vor sich hin.
In einem Moment, den ich als einen der
unromantischsten meines Lebens bezeichnen würde, küsst er mich. Und
zwar genau so, wie man es von kleinen Freaks erwartet: Völlig
überraschend schießt mir ein Gesicht entgegen, bohrt sich eine
Zunge zwischen meine Lippen, ist plötzlich überall in mir und an
mir. Alles schmeckt nach Peperoniwasser. Sein Körpergeruch ist
eigen, aber gar nicht mal schlecht.
An der Wand hängt ein Bild, das aus
etlichen Medikamentenkapseln gestaltet wurde. Man hat sie behutsam
geleert und mit Samen, toten Insekten, Sand, Gras und anderen Dingen
gefüllt. Immerhin hat er Talent, denke ich.
„Cooles Bild, oder? Hat meine Ex
gemacht.“
Am nächsten Abend stehe ich mit meiner
Schwester in einer Toilettenkabine im CineStar am Potsdamer Platz.
Sie begutachtet meine blutig schwarze Brustwarze.
„Wie ist das denn passiert?“
„Frag nicht.“
„Hm. Sie wird jedenfalls nicht
abfallen.“
Ich bin beruhigt. Meine Brustwarze für
einen Mann zu verlieren, der seine Brille zusammen gelötet hat –
das hätte ich nicht verkraftet.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen